"Wenn die Chemie stimmt..."
Arbeiten über die Entwicklung und die Effekte des hormonellen Verhütungsmittels, das ab 1960 das Leben vieler Frauen, Paare und Familien rund um den Erdball veränderte – umgangssprachlich bezeichnet als „die Pille“ – haben in letzter Zeit Konjunktur. Auch sind kürzlich wichtige Studien zu Bevölkerungspolitiken, Sexualitätsvorstellungen und zu Praktiken der Verhütung und Geburtenbegrenzung allgemein erschienen. Was also ist das Besondere des von Lutz Niethammer und Silke Satjukow herausgegebenen Sammelbandes, der auf zwei internationale Konferenzen des Jahres 2013 zurückgeht? Um es gleich vorwegzunehmen: Der Band stellt einen Meilenstein in der Erforschung der internationalen Wechselwirkungen von Bevölkerungspolitiken, Familienplanung, technologischen Entwicklungen und Sexualitäts- sowie Geschlechternormen dar, denn er argumentiert auf überzeugende Weise international vergleichend und unter einer dezidiert diachronen Perspektive. Am Ende der Lektüre angekommen, sehen sich die Leser/innen gut informiert „über die Probleme der Geburtenkontrolle und die Erfahrungen mit der Pille (bis hin zur Entscheidung gegen sie) in Europa und ausgewählten Weltregionen“ (S. 16) und, wichtiger noch, zu weiteren Forschungen angeregt.
Bis 2013 bestand an der Universität Jena die Forschungsgruppe „Wunschkindpille in der DDR. Empfängnisverhütung, Familienplanung, Geschlechterbeziehungen“. Die Ergebnisse liegen inzwischen in Form der wichtigen Arbeit von Annette Leo und Christian König vor.[3] Beide Autoren sind auch mit eigenen Beiträgen zur Einführung der Pille in der DDR (König) und zu den Entscheidungen der Nutzerinnen (Leo) vertreten. Vor allem aber liefert der Sammelband Anregungen zur Kontextualisierung der Reproduktionspolitik in der DDR, wobei der größte Vorzug darin liegt, dass Geburtenplanung, Verhütung und Geschlechterbeziehungen vergleichend in Gesellschaften des Westens und Osteuropas gegenübergestellt werden.
In ihrer konzisen Einleitung diskutieren die Herausgeber die Frage, inwiefern „Geburtenkontrolle erst ein Wunsch der Hochmoderne“ (S. 17) gewesen sei. Dies verneinen sie jedoch, um zugleich auf die Bedeutung der Zunahme von Verhütungswissen zu verweisen – ein ganz zentraler Aspekt des Buches. Nicht ganz einsichtig hingegen die Terminologie: Warum wird so unbefangen von „Euratlantica“ gesprochen, um die DDR im größeren europäischen/westlichen Kontext zu situieren (erstmals S. 9)? Und wird die Pille derzeit wirklich „als Lifestyleprodukt mit einer breiten Palette gewollter und ungewollter Nebenwirkungen“ (S. 14, 23) genutzt? Doch das sind Äußerlichkeiten, die den Wert der Analysen selbst nicht schmälern.
Ein fulminanter Beitrag von Lutz Niethammer zur Geburtenkontrolle im Islam eröffnet die erste Sektion des Bandes zu den „Vorgeschichten“. Er arbeitet, gestützt auf die Texte islamischer Theologen, Juristen und Soziologen, heraus, dass nicht der Islam als Religion per se eine negative Haltung zu Sexualität oder Geburtenkontrolle vorschreibt, sondern es vielmehr die gesellschaftliche Benachteiligung der Frau ist, die zu einer negativen Einhegung und Konnotation dieses Themas geführt hat. Damit gelingt ihm ein innovativer Blick auf die Geschichte der Reproduktion in der islamischen Welt, die sonst in Sammelwerken meist fehlt. In weiteren Beiträgen liefern Eva Labouvie, Regina Schulte und Cornelie Usborne – allesamt Expertinnen zum Thema – wichtige Hintergrundinformationen zur Entwicklung des reproduktiven Entscheidens von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert zwischen Verhütung, Abtreibung und Kindsmord. Bei diesen Praktiken nahm zum einen Wissen über die körperlichen Vorgänge der Empfängnis und Schwangerschaft eine zentrale Stellung ein, zum anderen ermöglichten sich aber auch spezifische Handlungsräume für Frauen in der Anwendung und Weitergabe dieses Wissens.
Nach einem nützlichen – merkwürdigerweise in einer separaten Sektion „Das Zeitalter der Pille“ präsentierten – Beitrag von Thomás Sobotka zur Entwicklung der Geburtenkontrolle in den staatssozialistischen Ländern, thematisieren zwei weitere Sektionen die Entwicklungen von Verhütung und Reproduktion „im Westen“ und „im Osten“. Die Beiträge stammen allesamt von Expertinnen und Experten. In der Sektion zum „Westen“ beschäftigen sich zwei Beiträge mit den USA, zwei weitere (Eva-Maria Silies, Lutz Sauerteig) mit der BRD. Hier könnte man sich natürlich noch Blicke auf andere Länder (Großbritannien, Frankreich etc.) vorstellen, aber diese Kritik ist wohlfeil. Während Maria Mesner sich eher auf die großen Linien der Debatten um die Pille in den USA konzentriert und noch einmal betont, dass in den 1960er-Jahren vor allem weiße, verheiratete Frauen aus der Mittelschicht in den Genuss des neuen Kontrazeptivums kamen, überzeugt die Fallstudie von David P. Kline mit einem innovativen Blick auf ungewöhnliche Allianzen vor der Legalisierung der Abtreibung 1973. Am Beispiel des Clergy Consultation Service kann Kline zeigen, wie sich in Massachusetts Feministinnen und Katholiken zusammenfanden, um Frauen in Not trotz Illegalität sichere Abtreibungen zu ermöglichen.
In der Sektion zu Osteuropa finden sich neben den Beiträgen von König und Leo zur DDR auch Artikel zu Serbien (Rada Drzegic), Russland und Polen. Hier bietet die Arbeit der Demographen Boris Denisov und Victoria Sakevich eine dringend benötigte Datengrundlage zur Entwicklung der Abtreibungen in der Sowjetunion und Russland, wobei sich zwei Grundbeobachtungen zeigen: der kontinuierliche Pronatalismus der jeweiligen Regierung, dem die Menschen ihre Präferenz für kleine Familien entgegenstellten, und der Mangel an verlässlichen Verhütungsmitteln, was vor allem in der Sowjetunion zu konstant hohen Abtreibungsraten führte. Auch in der Volksrepublik Polen verfolgte der Staat eine Reproduktionspolitik, die geringe Kosten für den Staat, aber hohe Kosten für den Körper der Frau beinhaltete (durch Doppelbelastung als Werktätige und Mütter, wiederholte Abtreibungen bei mangelnder Verfügbarkeit moderner Verhütungsmittel, Übernahme der Kinderbetreuung als Großmütter). Hier bildete der Katholizismus einen zusätzlichen Referenzrahmen – ebenfalls zum Nachteil der Frauen, wie Agatha Ignaciuk argumentiert. Abtreibung schließlich galt den Frauen weniger als „individuelles Recht“, wie im Westen, sondern als soziale Praktik, auf die im Bedarfsfall zurückgegriffen werden konnte.
Besonders aufschlussreich sind auch die Beiträge der letzten Sektion „Globale Ausblicke“, die allesamt eine ausführlichere Besprechung verdient hätten, als es an dieser Stelle geleistet werden kann. Während die Pille in Argentinien bereits in den 1960er-Jahren eingeführt wurde, jedoch im Zentrum erbitterter Auseinandersetzungen stand (Karina Felitti), konnten in Brasilien Frauen erst nach dem Ende der Militärdiktatur Mitte der 1980er-Jahre offiziell auf das Kontrazeptivum zugreifen (Cecilia Mesquita). Am Beispiel Südafrikas zeigt Rita Schäfer anschaulich, wie sich Familienplanung in den 1970er-Jahren zu einem „integralen Bestandteil der staatlichen Bevölkerungspolitik sowie der parallel verfolgten gesellschaftlichen Modernisierung“ (S. 376) entwickelte – segregiert nach „Race“ und „Class“: Weiße Frauen durften nicht abtreiben, erhielten aber die Pille, schwarze hingegen wurden überproportional häufig sterilisiert (oft ohne ihr Einverständnis) oder mit Langzeitverhütungsmitteln (Depo-Provera, Spirale) versorgt. In der Türkei dagegen erschwerten Logistik- und Produktionsprobleme die Verbreitung der Pille – entgegen der modernisierenden Absicht der Regierung und vergleichbar den Bedingungen in anderen europäischen Ländern. Der lesenswerte Beitrag von Heinrich Hartmann zeigt insbesondere ding- und konsumgeschichtliche Perspektiven auf, die auch gerade in vergleichender Perspektive weiterverfolgt werden sollten. In China schließlich (Delia Davin) diente die Einführung moderner Verhütungsmethoden primär den Interessen des Staates an einer strikten Politik der Bevölkerungsbegrenzung. Die Pille hatte hier also weniger befreiende Effekte, wie dies im Westen der Fall war, sondern die Ein-Kind-Politik erhöhte deutlich den Druck auf Frauen, männliche Nachkommen zu produzieren. Und wieder waren es die Körper von Frauen, die zur Konfliktzone wurde. In dieser spannungsreichen Beziehung zwischen Frauenkörpern und staatlicher Reproduktionspolitik liegt eine weitere Gemeinsamkeit aller Beiträge, die es weiter auszuloten gilt.
In ihrer Einleitung erklärten die Herausgeber, mit ihrem Band „Fenster künftiger Forschung“ öffnen zu wollen. Genau das gelingt auf durchweg hohem Niveau – wobei zu hoffen bleibt, dass das Gros der Beiträge, mangels Übersetzung ins Englische, nicht nur von der deutschen Scientific Community rezipiert wird. Im Sinne einer breiten internationalen Leserschaft wäre dem Band eine komplette Übersetzung ins Englische zu wünschen.
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